Krebsnetz - Ein Ratgeber für Patienten und Angehörige zum Thema "Krebs"
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Angehöriger 1
(Hirnmetastasen)

 

 

 

Krebserkrankung aus Sicht eines Angehörigen

Wie startet man eine Krankengeschichte, wenn man nicht gemerkt hat, wann die Krankheit eigentlich begonnen hat? Krebs äussert sich oft in Symptomen, die auch eine andere, viel harmlosere Ursache haben könnten. So machten wir uns keine großen Sorgen, als mein Vater im März an seinem 68sten Geburtstag nicht gut zu Fuß war. Er hatte sein linkes Bein nicht ganz unter Kontrolle und das Gespür für den stabilen Gang verloren. Hinzu kam eine wiederkehrende Übelkeit beim Drehen des Kopfes. Nachdem weder der Hausarzt noch der Orthopäde und der Neurologe die Ursache fanden, entdeckte man diese mit Hilfe einer Computertomographie (CT). Auf dem Bild vom Inneren des Kopfes waren Regionen zu sehen, die die Fachleute als Hirnmetastasen erkannten. Um diese Tochtergeschwülste eines unbekannten Krebses herum hatte sich viel Wasser gesammelt. Mein Vater hatte Hirnödeme, die der Grund für die anhaltende Übelkeit waren.

Wie reagiert man auf eine solche Diagnose? Die Ärzte taten das, was sie in dieser Situation tun müssen: besonnen und schnell handeln. Es erfolgte die Einweisung ins Krankenhaus und der sofortige Beginn der Therapie. Zunächst einmal musste das Wasser aus dem Kopf. Eine rasche Erleichterung konnte durch eine Kortisonbehandlung erzielt werden. Für meinen Vater, den Patienten, und uns, die Angehörigen, war es schwierig, ruhig zu bleiben und einen klaren Gedanken zu fassen: Krebs. Hirnmetastasen. Gefahr, ins Koma zu fallen. Wie soll man mit dieser Nachricht umgehen? Sie traf uns unvorbereitet. Im ersten Moment waren wir sprachlos. Das Schweigen zu durchbrechen. Über die Ängste zu reden. Das waren die ersten Schritte, um die Situation als Familie zu bewältigen. Gleich nach dem Aufklärungsgespräch durch den Arzt war uns klar: Einer von uns ist schwer krank. Aber wir alle treten der Krankheit als Familie entgegen und sehen ihr ins Auge. Ich selbst habe dabei eine Doppelrolle. Ich bin das einzige Kind meiner Eltern und selbst Vater zweier kleiner Kinder. Mit meiner Familie wohne ich 200 km von meinen Eltern entfernt. Ist musste meine Prioritäten neu setzen. Insbesondere der Beruf rückt in den Hintergrund, wenn es um die nächsten

Angehörigen geht. Eine Krebserkrankung in der Familie zwingt dazu, die Sachen, die einem wirklich wichtig sind, auch wichtig zu nehmen.

Was kann man gegen eine Krebserkrankung in diesem Stadium tun? Zunächst einmal mussten wir als Angehörige akzeptieren, dass ein Krebs, der gestreut, d.h. Metastasen gebildet hat, bösartig und in der Regel weit fortgeschritten ist. Von den Ärzten darf man keine Wunder erwarten, so sehr man sie sich auch erhofft. Die Regeln der Kunst können Linderung, teilweise Besserung, manchmal sogar Heilung ermöglichen. Im Fall meines Vaters waren die Möglichkeiten auf palliative, d.h. lindernde Maßnahmen begrenzt. Eine Verkleinerung der Metastasen erwarteten die Ärzte durch eine Strahlentherapie. Auch diese begann umgehend und dauerte 2 Wochen. Die Bilder von Krebskranken, die durch eine solche Therapie ihre Haare verlieren, hat man direkt vor Augen. Schön ist es nicht, aber von allen Nebenwirkungen ist dies noch diejenige, die mein Vater und wir am besten verarbeitet haben. Selbst meine Söhne haben sich an das neue Aussehen ihres  Opas schnell gewöhnt. Parallel zur Strahlenbehandlung wurde nach dem unbekannten Krebs, dem sog. Primärtumor, gesucht. Dazu gibt es viele Analysemöglichkeiten. Die Ärzte beginnen zunächst mit den Dingen, die dem Patienten (fast) keine weiteren Schmerzen bereiten: Röntgen, Kernspintomographie, Blutuntersuchungen und Ultraschall. Auch eine sog. PET, eine moderne und praktisch schmerzlose Suchuntersuchung mit einer leicht radioaktiven Substanz, wurde bei meinem Vater durchgeführt. Den Primärtumor konnte man aber trotzdem nicht entdecken. Deshalb heißt diese Krebserkrankung abgeleitet vom Englischen "Cancer of Unknown Primary" CUP-Syndrom. In den knapp 5 Wochen im Krankenhaus wurde die Schwere der Krankheit deutlich: Zeitweise besserte sich das Gespür im Bein, aber Müdigkeit nach der Strahlentherapie, anhaltende Übelkeit, Muskelabbau an Armen und Beinen durch das Kortison und ein deutlicher Gewichtsverlust waren festzustellen. Für die Zeit zu Hause schmiedeten meine Eltern Pläne, denn natürlich wollte mein Vater noch viele Dinge regeln. Auch einen gemeinsamen Urlaub an der See erhofften wir uns. Eine wichtige Lektion haben wir lernen müssen: Bei einer Krebserkrankung darf man keine zu hohen Erwartungen an eine Besserung haben. Wenn man die Ziele niedriger ansetzt, ist die Freude, sie erreicht übertroffen zu haben, wesentlich größer.

Ist es für den Patienten gut, wieder in der häuslichen Umgebung zu sein? Wenn man die Möglichkeiten und die Unterstützung hat, die eigenen vier Wände kranken- und pflegegerecht einzurichten und die Zeit und Kraft für die Pflege aufbringt, dann ist die häusliche Umgebung für einen Schwerkranken sicherlich angenehmer als das Krankenhaus. Auf meine Mutter kam ab Mai eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung zu, dafür entfielen die täglichen Fahrten ins Krankenhaus. Kurzfristig waren zu Hause auch Erfolge zu sehen: Mein Vater aß mehr als im Krankenhaus. Er fühlte sich zu Hause sicherer und wohler. Durch die Gehhilfe konnte er sich in der Wohnung bewegen. Doch von Woche zu Woche wurde die Krankheit immer spürbarer: Irgendwann klappte es nicht mehr mit dem Gang zum Esstisch, dann war auch der Gang zur Toilette zu schwierig. Die Folge war eine dauerhafte Bettlägerigkeit. [Lieber Leser, bitte vergessen Sie alle Vorurteile gegenüber einem Krankenbett in der Wohnung, die Sie vielleicht haben. Es ist für den Patienten und für den häuslich Pflegenden eine enorme Verbesserung gegenüber dem eigenen (Doppel-)Bett. Scheuen Sie sich nicht, die Hilfsmittel zu verwenden, die Ihnen zur Verfügung gestellt werden können.] Als einzige Abwechslung zum Krankenbett blieb meinem Vater der Rollstuhl.

Wie ging es therapeutisch weiter? Mitte Juni konnte die Wirkung der Bestrahlung auf die Metastasen mit Hilfe der MRT (Magnet-Resonanz-Tomographie) untersucht werden. Leider hatten sich die Tochtergeschwülste entgegen den Erwartungen nicht deutlich verkleinert. Dem Gehirn war keine weitere Strahlenbehandlung mehr zuzumuten. So standen wir vor der schwierigen Frage, ob wir auf weitere diagnostische und therapeutische Verfahren verzichten wollten. Jede Untersuchung oder Behandlung hätte gemessen an den damit verbundenen Belastungen für meinen Vater einen fragwürdigen Nutzen gehabt. So ernüchternd das Ergebnis für uns alle war, die Linderung der Schmerzen und der Erhalt der Lebensqualität möglichst in der häuslichen Umgebung waren uns, den Angehörigen, wichtiger als eine künstliche Verlängerung der bloßen Lebenszeit meines Vaters. Zunächst habe ich mit meiner Frau und den Kindern eine Woche Urlaub gemacht, um Kraft zu tanken. Dann habe ich mir noch mehr Zeit für meine Eltern genommen und bin für einige Wochen in der Firma kürzer getreten. Meiner Frau und den Kindern habe ich weitere Pendelfahrten zwischen unserem Wohnort und dem Wohnort meiner Eltern zugemutet, um vor Ort Unterstützung leisten und für meinen Vater Dinge regeln zu können.

Was hat mir am meisten geholfen, um mit der Erkrankung meines Vater fertig zu werden? Ich bin mit der Krankheit offen umgegangen, habe ausgesprochen und nicht totgeschwiegen, dass mein Vater Krebs hat und mich dies bewegt. Es war überraschend, wie offen und persönlich mir meine Umwelt geantwortet hat. Nicht nur meine Frau hat sich viel Zeit genommen, auch Freunde und Kollegen haben von ihren Erlebnissen mit Krebs in der Familie gesprochen. Ich hatte viele Fragen zu Krebs und habe sie den Ärzten und Bekannten gestellt. Ich habe jede Menge Tipps erhalten, die mir geholfen haben und die ich nutzen konnte, um meinen Eltern zu helfen. Zu sehen, wie sich meine Eltern gegenseitig Kraft geben, und was es bedeutet, wenn die Schwester meines Vaters, die schon Witwe ist, zu Besuch kommt, war mir eine große Hilfe.

Ist mit dem Ende der Therapie schon alles zu Ende? Nein. Krankheitsbegleitung ist im Wissen um die Schwere der Krankheit in dieser Phase sicher auch ein Stück Sterbevorbereitung. Abschied nehmen, soweit man dies kann. Dinge regeln, soweit sie geregelt werden können. Wünsche erfüllen, die noch erfüllbar sind. Alles in allem sind es Kleinigkeiten, die man dem Patienten und sich selbst zu Liebe wichtig nehmen sollte. Auf große Pläne und Ziele wollten weder mein Vater noch wir Zeit verwenden. Jeden Tag, an dem es meinem Vater gut geht, empfinden wir als Geschenk, als Geschenk für ihn und als Geschenk für uns. In unserem Fall gab es aber doch ein Ziel, auf das wir alle hingearbeitet haben: den 64sten Geburtstag meiner Mutter Anfang August. Und wie war dieser Tag? Es war ein schöner Tag. Schöner als wir ihn uns erträumt hatten. Er wird uns Kraft geben für die kommende Zeit.

 


 

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